Stellungnahme "Zur Notwendigkeit des Erhalts familienanaloger Einrichtungen im Bereich der stationären Kinder- und Jugendhilfe"

Stellungnahme vom 05.04.2022

Der VPK-Bundesverband vertritt als Dachverband bundesweit private Träger der freien Kinder-, Jugend- und Sozialhilfe. Insgesamt zählt der Verband rund 850 kleine bis mittelgroße Einrichtungen zu seinen Mitgliedern, die Plätze in der stationären, teil-stationären und ambulanten Kinder- und Jugendhilfe anbieten.

Ausgangslage
Im Rahmen der Novellierung des SGB VIII wurde eine Neudefinition des Einrichtungsbegriffs nach
§ 45a SGB VIII vorgenommen. Diese soll die Voraussetzungen für den Betrieb einer Einrichtung regeln. In der Novellierung wird zudem bestimmt, dass die Länder durch entsprechende Ausführungsvorschriften regeln können, „unter welchen Voraussetzungen familienanaloge Betreuungsformen Einrichtungen sind, die nicht fachlich und organisatorisch in eine betriebserlaubnispflichtige Einrichtung eingebunden sind" (§ 45a S. 4 SGB VIII). Der Gesetzestext ist in der vorliegenden Fassung jedoch nicht eindeutig, sondern lässt vielmehr auch weitere Deutungen und Lesarten zu.

Die Ausführungsverordnungen der Länder stehen aktuell überwiegend noch aus. Es ist jedoch mit Blick auf die zum Teil bereits in Kraft getretenen Übergangsregelungen in einigen Ländern absehbar, dass kleine familienanaloge Wohnformen zukünftig nicht mehr unter den Einrichtungsbegriff nach
§ 45a SGB VIII fallen könnten und auch keine Betriebserlaubnis nach § 45 SGB VIII mehr erhalten, sofern sie nicht in eine übergeordnete Einrichtung oder Trägerstruktur eingebunden sind bzw. sofern eine personelle Trennung von Einrichtungsleitung und Fachkraft verneint werden muss
.
Eine Aberkennung der Betriebserlaubnis würde bedeuten, dass die bestehenden Erziehungsstellen eventuell in Pflegestellen nach § 33 SGB VIII mit der Folge umgewandelt werden müssten, dass für alle inhaltlichen und strukturellen Fragen fortan ausschließlich das jeweilige Jugendamt zuständig wäre. Die Qualitätssicherung durch die Heimaufsicht bzw. die Landesjugendämter würde in diesem Falle wegfallen.

Familienanaloge Wohnformen als wichtige Angebote insbesondere für junge Kinder
Diese Entwicklung betrachtet der VPK mit großer Sorge. Familienanaloge Wohnformen mit in der Regel ein bis vier Plätzen richten sich vorrangig an Kinder und Jugendliche, die nach besonders traumatischen Erlebnissen oder aufgrund von Bindungsbelastungen (Beziehungsabbrüche in früher Kindheit, Gewalterfahrungen, Verwahrlosung im Elternhaus etc.) trotz einer gegebenenfalls nachhaltigen Verbesserung der Entwicklungs-, Teilhabe- oder Erziehungsbedingungen nicht mehr in ihre Herkunftsfamilie zurückgeführt werden können und ein sehr spezielles Setting zwingend benötigen. Dieses Setting kann insbesondere in familienanalogen Wohnformen gewährleistet werden, die sich durch besondere Nähe in Kleinstgruppen oder Einzelbetreuung auszeichnen. Hier können in einer möglichst reizarmen Umgebung intensive Vertrauensbeziehungen langfristig aufgebaut und Kindern und Jugendlichen dadurch im besten Fall verlorengegangene Sicherheit und Verlässlichkeit (wieder) vermittelt werden. Viele der VPK-Mitgliedseinrichtungen bieten eben diese Hilfe in familienanalogen Wohnformen mit geringer Platzanzahl an und leisten damit seit Jahren mit sehr guten und nachhaltigen Qualitätskonzepten einen wichtigen Beitrag zur Erfüllung der Versorgung von Kindern und Jugendlichen außerhalb ihrer Ursprungsfamilie.

Darüber hinaus haben Studien belegt, dass die stationäre Unterbringung in kleinen familienanalogen Betreuungssettings gerade für jüngere Kinder mit ihren speziellen Bindungsbedürfnissen wichtig und sehr erfolgversprechend ist. Die Ergebnisse dieser Studien (u.a. von Prof. Dr. Klaus Wolf, Universität Siegen, im Auftrag der Landesjugendämter NRW) sind in die landesamtlichen Vorgaben für die Unterbringung von Kindern unter sechs Jahren mit klarer Präferenz für familienanaloge Betreuungssettings eingeflossen und es wird sich regelmäßig auf diese bezogen.

In diesem Zusammenhang ist gleichzeitig darauf hinzuweisen, dass bei Aufnahmeanfragen das Alter der Kinder, die in stationären Wohnformen untergebracht werden sollen, deutlich gesunken ist. Diese Kinder müssen jedoch schon jetzt aufgrund unzureichender Kapazitäten in familienanalogen Betreuungsformen sehr lange in Inobhutnahmestellen verweilen. Die Nachfrage nach diesen speziellen Angeboten ist bei den Mitgliedseinrichtungen des VPK fortwährend hoch und auch den VPK-Bundesverband erreichen regelmäßig Anfragen von örtlichen Jugendämtern, die auf der bundesweiten Suche nach geeigneten Wohnformen für teilweise stark traumatisierte Kinder sind, die kurzfristig passgenaue Hilfe benötigen.

Gefährdung familienanaloger Wohnformen durch neuen Einrichtungsbegriff
Durch die zu erwartenden und großenteils zum Nachteil junger Kinder angepassten Ausführungsverordnungen der Länder ist nun jedoch zu befürchten, dass zahlreiche dieser speziellen Wohnformen zukünftig so nicht mehr angeboten werden können. In der Folge werden viele Kinder und Jugendliche erneute Bindungs- und Beziehungsabbrüche erleben und einen schützenden Rahmen mit festen Bezugspersonen verlieren. Zudem ist zu erwarten, dass aufgrund der gewünschten Einbindung in übergeordnete Trägerstrukturen künftig mehrheitlich große Einrichtungen existieren werden und in diesem Zuge die Vielfalt der Trägerlandschaft zugunsten eines monopolisierten eingeschränkten Angebots gefährdet wird.

Erhalt der Aufsichtsfunktion durch die Landesjugendämter/Heimaufsichten
Eine strikte Auslegung des Einrichtungsbegriffs nach § 45a SGB VIII, wie sie bereits in einigen Übergangsregelungen der Länder formuliert ist, ist aus unserer Sicht aber nicht zuletzt auch deshalb problematisch, weil hiermit die Zuständigkeit der Aufsicht von den Landesjugendämtern an die Jugendämter übergehen würde. Die Landesjugendämter/Heimaufsichten fungieren mit ihren Befugnissen und Kompetenzen jedoch auch als regulative Institutionen gegenüber den örtlichen Jugendämtern. Unserer Einschätzung nach ist die Beibehaltung der Aufsicht durch die überörtlichen Jugendämter im Interesse des Kinderschutzes von besonderer Bedeutung. Eine Verschiebung von Zuständigkeiten kann nicht das Ziel eines Gesetzes sein, das dem Kinderschutz allerhöchste Priorität beimessen möchte und durch die beschriebenen Neuregelungen in der Konsequenz nun doch die Abgabe von Verantwortlichkeiten hinsichtlich Kontrolle, Planung und Beratung zulässt.

Die ursprüngliche Intention des Gesetzgebers, mit der Einführung des § 45a SGB VIII den Schutz von Kindern und Jugendlichen in Einrichtungen zu stärken, ist aus unserer Sicht nicht gelungen. Die Größe der Einrichtung oder die Einbettung in eine übergeordnete „verwaltende" Einrichtung kann nicht alleiniger Maßstab für einen gelungenen Kinderschutz sein. Darüber hinaus sichert die Größe einer Einrichtung oder die Einbindung in einen „verwaltenden“ Träger nicht per se die Qualität der vor Ort geleisteten pädagogischen Arbeit für die Kinder, Jugendlichen und jungen Menschen. Der VPK setzt sich seit Jahren für einen kontinuierlichen Schutz von Kindern und Jugendlichen in seinen Mitgliedseinrichtungen ein und weiß um die Anforderungen, die es für die Sicherstellung des Schutzauftrags bedarf. In diesem Sinne stellt der Verband hohe Qualitätsansprüche an seine Mitgliedseinrichtungen und arbeitet auf Grundlage seines Verhaltenskodexes, seines Leitbilds und der Aufnahmekriterien auf Ebene der Mitgliedsverbände kontinuierlich an deren Einhaltung und Verbesserung.

Es wird sich zeigen, ob die Änderungen im SGB VIII den Schutz der Kinder und Jugendlichen weiter verbessern werden. Schon jetzt steht jedenfalls fest, dass die Situation von Kindern und Jugendlichen, die aufgrund der beschriebenen Entwicklung künftig nicht mehr in Einrichtungen nach § 45a SGB VIII untergebracht werden können, mit Blick auf die Zukunft unklar ist. Welche Hilfe kann diesen Kindern mit besonderen Hilfebedarfen zukünftig angeboten werden? Häufig wird in diesem Zusammenhang die Option einer Hilfe durch eine Pflegefamilie nach § 33 SGB VIII genannt, welche unbestritten grundsätzlich eine mögliche wichtige Hilfeart darstellt. Hier muss jedoch einerseits angezweifelt werden, dass der Schutz dieser Kinder in einer Pflegefamilie besser gewährleistet werden kann, gelten doch wie oben beschrieben nur in Einrichtungen nach § 45a i.V.m. § 45 SGB VIII besondere Anforderungen an den Schutz des Kindeswohls. Andererseits stellt sich die Frage, ob im Hinblick auf die Betreuung von hoch traumatisierten und sehr verhaltensauffälligen Kindern die Möglichkeiten und Kompetenzen von Pflegefamilien nicht leicht überschätzt werden könnten.

In diesem Zusammenhang sei zuletzt noch auf eine weitere Auslegung des Einrichtungsbegriffs hingewiesen, die Meysen/ Smessaert in ihrer Kommentierung des KJSG formulieren. Nach ihrer Einschätzung können familienähnliche Betreuungsformen auch ohne Einrichtungsstatus als Form der Hilfen zur Erziehung erhalten bleiben. In dem Fall, dass familienähnliche Betreuungsformen keine Einrichtungen nach § 45a SGB VIII mehr darstellen, gleichzeitig aber auch keine Pflegestellen nach § 44 SGB VIII sind, gehen Meysen/Smessaert dennoch von einer Hilfe zur Erziehung in stationärer Form nach § 27 Abs. 2 SGB VIII bzw. sonstiger Wohnform nach § 35a Abs. 2 Nr. 4 SGB VIII für die nach §78a Abs. 1 Nr. 4 Buchst. D bzw. Nr. 5 Buchst. B SGB VIII aus, aus denen sich ein Anspruch zum Abschluss von Vereinbarungen nach § 78b ergibt. Diese Modelle unterscheiden sich demnach von Pflegefamilien durch das Anstellungsverhältnis (Meysen/Smessaert 2022, 248).

Klärung der Situation familienanaloger Wohnformen
Aus Sicht des VPK bedarf es dringend einer deutlichen Klarstellung zur Auslegung des neuen Einrichtungsbegriffs durch die Gesetzgeber auf Bundes- und Landesebene, damit eine transparente und einheitliche Anwendung in der Praxis vorgenommen und der Fortbestand der so wichtigen familienanalogen Wohnformen unter Aufsicht der Landesjugendämter auch zukünftig gesichert werden kann. Landesgesetzliche Regelungen sind im § 45a SGB VIII schon jetzt explizit genannt und zugelassen. Die Länder sind nun aufgefordert von ihrem Regelungsrecht Gebrauch zu machen und beratend darauf hinzuwirken, dass die entsprechenden Weichen auf Ebene der Länder von diesen gestellt werden, damit familienanaloge Angebote hierdurch auch weiterhin unter den Einrichtungsbegriff nach § 45a SGB VIII fallen.

Sollten die familienanalogen Wohnformen zukünftig nicht mehr unter das Betriebserlaubnisrecht fallen und bestehenden Einrichtungen die Betriebserlaubnis entzogen werden, so würde aus unserer Sicht der Kinderschutz in ganz erheblicher Weise gefährdet werden. So argumentiert auch Prof. Dr. Jan Kepert in seinem Gutachten vom Oktober 2021 (vgl. Anlage, S. 5), in dem er schreibt: „… Die Verneinung des Einrichtungsbegriffs führt daher zu einer Verkürzung des strukturellen Kinderschutzes.“ Dies war vom Gesetzgeber so sicherlich nicht intendiert.

Wir bitten Sie daher:

Setzen Sie sich im Interesse von Kindern, Jugendlichen und deren Familien mit uns für

  • den Erhalt der familienanalogen Wohnformen,
  • den weiteren Ausbau und die Aufrechterhaltung der Vielfalt fachlicher und professioneller Unterbringungsformen für junge Menschen,
  • die weitere Professionalisierung der vielfältigen Hilfen in der Kinder- und Jugendhilfe – auch und gerade in den familienanalogen Settings und damit
  • ein gesundes Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen und den Erhalt der Bindungen und Beziehungen der in den familienanalogen Wohnformen lebenden jungen Menschen ein.

VPK-Bundesverband e.V.

Kontakt / Ansprechpartner
Bundesverband privater Träger der freien Kinder-, Jugend- und Sozialhilfe e.V. (VPK)
Bundesgeschäftsstelle: Albestraße 21, 12159 Berlin, Tel.: 030 / 89 62 52 37
Sophia Reichardt, Tel.: 030 / 58 84 07 41
E-Mail: reichardt@vpk.de
Internet: www.vpk.de

Hintergrund

Der VPK-Bundesverband ist der einzige bundesweite Dachverband für private Träger der freien
Kinder-, Jugend- und Sozialhilfe. Er ist politisch und finanziell unabhängig und wird durch die Beiträge der Mitglieder der Landes- und Fachverbände finanziert, die auf Grundlage des Sozialgesetzbuches verschiedene Dienstleistungen in der Kinder- und Jugendhilfe erbringen.
Der VPK wird zur Interessenvertretung seiner Mitglieder gegenüber Politik und Gesellschaft aktiv. Er ist nach seinem Selbstverständnis qualitäts- und leistungsorientiert und in verschiedenen übergreifenden Gremien bundesweit vertreten. Der Verband wird in allgemeinen und grundsätzlichen Fragestellungen der Kinder- und Jugendhilfe initiativ, verfasst Stellungnahmen, unterhält eine Internetseite und gibt die Fachzeitschrift „Blickpunkt Jugendhilfe“ heraus.